Mehr Räder, weniger Sicherheit

   Corona beschleunigt die Verkehrswende:

Autofahrer müssen Fahrspuren abgeben, Fußgänger und Radfahrer bekommen mehr Platz. Viele Umsteiger von Bussen und Bahnen sowie die Abstandsvorgaben zur Covid-19-Infektionsgefahr erfordernzusätzliche Radwege. Nach dem Ummarkieren von Autospuren zu provisorischen Radspuren entstehen in vielen Großstädten sogenannte Pop-up-Bikelanes. Experten warnen: Steigt der Radverkehr zu schnell, können sich andere Verkehrsteilnehmer nicht schnell genug darauf einstellen – die Unfallzahlen steigen.

„Sicherheit in der Masse“
Im Gegensatz zu allgemein sinkenden Unfallzahlen zeigt die Statistik: Seit 2010 verunglücken jährlich zwischen 350 und 400 Radfahrer tödlich; im letzten Jahr gar 454. Politiker und Städteplaner wollen aber möglichst viel Radverkehr in die Stadt bringen, um die Unfallzahlen zu reduzieren. Ihre Hypothese: “Safety in Numbers” (Sicherheit in der Masse): Autofahrer sind ständig von Radfahrern umgeben und fahren deshalb vorsichtiger. Unfallforscher haben aber bedenken. „Die These der ‘Sicherheit in Zahlen’ lässt sich für deutsche Radstädte nicht belegen“, sagt Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer. “Auch in den Niederlanden oder in klassischen Fahrradstädten haben wir hohe Unfallzahlen mit verletzten und getöteten Radfahrern”.

Unfallzahlen sollten sinken
Ob mehr Fahrradfahrer in der Stadt tatsächlich die Unfallzahlen reduzieren, untersuchte Verkehrsplaner Christian Holz-Rau von der TU Dortmund. Er analysierte die statistischen Unfalldaten von sechs Großstädten über mehrere Jahre. Zur Ermittlung des Unfallrisikos wertete sein Team das Verkehrsverhalten von Radfahrern und Fußgängern aus, sowie den Pendlerverkehr. Demnach sind Münster, Bremen und Hannover Städte mit hohem Radverkehr. Dort müssten die Unfallzahlen eigentlich geringer sein als in Städten mit weniger Radverkehr wie Düsseldorf, Dresden oder Frankfurt/Main. Ein Safety-in-Numbers-Effekt durch zunehmenden Radverkehr sei nicht zu belegen, lautet das Ergebnis. „Wir sind aber in der Verpflichtung, verstärkt etwas für die Sicherheit zu tun, da der Radverkehr in vielen Städten bereits vor Corona zugenommen hat“, erklärt Professor Holz-Rau.

Corona-Gefahrenlagen
Knapp 20 Prozent der Deutschen stiegen in der Coronakrise von Auto oder Öffentlichen Verkehrsmitteln auf das Fahrrad um. Stadt- und Kommunalpolitiker versuchen vermehrt aufgrund der “Corona-Gefahrenlage” – parallel zu beschlossenen Radentscheiden – den knappen Verkehrsraum mit Radfahrern zu füllen. Auch die Deutsche Umwelthilfe (DUH) macht Druck und hat mehr als 200 Städte aufgefordert, “eine beschleunigte Umwidmung von Verkehrsflächen in Fahrrad-Straßen und Pop-Up-Radwege” vorzunehmen.

Pop-Up-Bikelane
Grundsätzlich lassen sich solche temporäre Provisorien einfach wie eine Baustelle einrichten. Es braucht nur eine politische und verwaltungsrechtliche Entscheidung, die dann ein Markierungstrupp umsetzt. Umgebaut wird nichts, ein gelber Anstrich markiert den Radweg. Preiswert sind sie allemal: Ein Kilometer Corona-Radweg einzurichten, kostet in Berlin rund 10.000 Euro – etwa ein Viertel dessen, was allein die Planung eines üblichen Radwegs ausmacht. “Ich halte Pop-up-Bikelanes allenfalls kurzfristig für eine Möglichkeit, mittelfristig muss ein geordneter Planungsprozess her, in dem auch das Unfallgeschehen untersucht wird”, sagt Unfallforscher Siegfried Brockmann.

E-Scooter und Pedelec
Zusätzlich mischten sich vermehrt E-Scooter- und Pedelecfahrer unter den Fahrradverkehr. Allein im letzten Jahr wurden bundesweit fast drei Millionen Fahrräder verkauft, dazu 1.360.000 Millionen E-Bikes. Viele Berufstätige steigen aufs Fahrrad um. Über eine halbe Million Arbeitnehmer nutzen mittlerweile betriebliches Leasing, beispielsweise von Jobrad. Der Arbeitgeber least – überwiegend E-Bikes – und überlässt die Räder beruflich und privat den Mitarbeitern.

Fahrradstadt Frankfurt
In Frankfurt wuchs seit 2013 der Fahrradanteil am Verkehr um 58 Prozent. Die täglich gefahrenen Kilometer verdoppelten sich. Im gleichen Zeitraum zogen mehr als 100.000 Menschen an den Main, mit ihnen rund 50.000 Autos. Verkehrsdezernent Klaus Oesterling (SPD) räumt ein: “Der Platz auf den Straßen muss angesichts der veränderten Nutzung umverteilt werden – weniger für Autos und mehr für Radler”. So sollen 45 Kilometer neue Radwege entstehen. Hauptstraßen erhalten Fahrradspuren. Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) fordert mehr Corona-Radwege; die Stadtverwaltung lehnt ab. “Wir setzen nicht auf Pop-Up-Bikelanes, sondern auf eine dauerhafte und gute Radverkehrsinfrastruktur”, erklärt Stefan Lüdecke, Leiter der Stabsstelle Radverkehr. Beispielsweise müssten Ampelschaltungen und Parkplätze angepasst werden.

Radfahrer gefährdet
Was für eine Großstadt wie Frankfurt mehr Radverkehr bedeutet, hat auch Christian Holz-Rau analysiert. Seine Berechnung ergibt: Doppelt so viel Fahrradverkehr im Citybereich führt zu etwa zehn Prozent weniger Kraftfahrzeugaufkommen. Dies reduziere die Autounfälle um neun Prozent. „Gleichzeitig verdoppeln sich die Unfälle im Radverkehr”, stellt der Wissenschaftler fest. Denn schließlich bleibe der Pendler- sowie der Güter- und Wirtschaftsverkehr in die Mainmetropole in etwa gleich. „Der Radverkehr wird nicht mehr auf das Niveau zurückfallen, das er vor der Corona-Pandemie hatte“, ist sich Holz-Rau sicher.

Noch mehr Fahrräder
Dass der Umstieg auf das Fahrrad kein Strohfeuer ist, stellen auch Fachhändler derzeit fest. Bei Beratungs-, Probefahrt- und Abholterminen kommt es vermehrt vor den Fahrradläden zu Staus und Wartezeiten – oft sind es Autofahrer, die zum Rad wechseln.